Stell Dir vor, Du bist zu einem Abendessen eingeladen und die Gastgeberin serviert ein köstliches Gulasch. Auf die Frage nach dem Rezept antwortet sie: „Das Geheimnis ist die Fleischsorte. Ich verwende einfach 300 Gramm pikant gewürztes Golden-Retriever-Fleisch.“ Höchstwahrscheinlich siehst Du in dem, was gerade noch Essen war, nun ein totes Tier. Und was Du gerade noch lecker fandest, findest Du nun ekelhaft. Wahrscheinlich hat sich Dein Empfinden dramatisch verändert – obwohl das Fleisch dasselbe ist wie vorher. Was hat sich verändert?
Wenn es um den Verzehr von Tieren geht, wird unsere Wahrnehmung größtenteils, wenn nicht gar vollständig, von unserer Kultur beeinflusst. Weltweit wird den Menschen in fleischessenden Kulturen beigebracht, nur bestimmte Tierarten als „essbar“ einzustufen. Die Deutschen essen mit großer Selbstverständlichkeit Schweine, Rinder und Hühner, empören sich aber, wenn in China Hunde und Katzen gegessen werden. Woran liegt es, dass es hierzulande als „normal“ gilt, bestimmte Tiere zu essen, während der Verzehr anderer Tierarten als ekelhaft oder unmoralisch angesehen wird? Größtenteils deshalb, weil wir es von Kind auf so gelernt haben. Eine wichtige Rolle darin spielt auch die Art, wie wir Tiere wahrnehmen: Tiere, die wir zum Beispiel niedlich finden oder für intelligent halten, essen wir normalerweise nicht.
Melanie Joy, Professorin für Psychologie und Soziologie an der Universität von Massachusetts in Boston, hat sich mit der kulturell bedingten Wahrnehmung von Tierarten beschäftigt. Sie gibt dem Phänomen, dass wir gelernt haben, dieses oder jenes Tier als Lebensmittel anzusehen, einen Namen: Karnismus. Der Begriff beschreibt ein unsichtbares System aus Überzeugungen, das uns seit unserer Kindheit darauf konditioniert, bestimmte Tiere zu essen. Manche Tiere sind für uns daher primär „Fleisch“, während andere Tiere zu unseren Freunden und Begleitern zählen, die wir selbstverständlich nicht aufessen würden. Es gibt auch Tiere, die eine Doppelrolle innehaben. So kuscheln manche Menschen mit Kaninchen, andere verspeisen sie mit großem Appetit.
„Die meisten Menschen haben Mitgefühl mit Tieren. Trotzdem essen sie ihre Körperteile regelmäßig. Das geht nur, weil uns der Karnismus lehrt, nicht zu fühlen. Das ganze System ist darauf angelegt, unser Bewusstsein und unsere Empathie zu blockieren“, sag Joy. Weil unsere Empathie nicht total blockiert wird, essen wir nur bestimmte Tiere, während wir andere als Haustiere halten und eine enge Beziehung zu ihnen aufbauen. Mit der einen Hand essen wir einen Burger, während wir mit der anderen unseren Hund streicheln. In unserem Kulturkreis lieben zum Beispiel viele Menschen Hunde und behandeln sie teilweise wie Familienmitglieder. Aber wir essen Schweine und tragen die Haut von Kühen. Dabei sind Schweine und Kühe mindestens genauso intelligent wie Hunde und haben die gleiche Fähigkeit, Emotionen und Leid zu erleben. Dieser Widerspruch ist den meisten überhaupt nicht bewusst. Der dahinter liegende Mechanismus findet sich übrigens auch in menschlichen Ausbeutungsverhältnissen. Manche Leute bombardieren wir, andere retten wir. Manche werden versklavt, andere verherrlicht. Der Unterschied hat aber nichts mit dem Individuum an sich zu tun. Der Unterschied hat etwas mit unserer Wahrnehmung der Gruppe zu tun, zu der sie gehören. Pferde sind zum Reiten, nicht zum Essen!“, sagt bei uns fast jeder empört, der zum Pferdefleisch-Skandal befragt wird. Hauptgrund für das Entsetzen ist dabei nicht nur der Etikettenschwindel, sondern der Ekel vieler Verbraucher vor diesem Fleisch. Wäre in den Tiefkühl-Lasagnen neben Rindfleisch aber Schwein statt Pferd gefunden worden, wäre die öffentliche Aufregung mit Wahrscheinlichkeit weitaus geringer gewesen.
Ursache, warum wir für manche Tiere Mitgefühl empfinden und für andere nicht, ist der Mechanismus des Leugnens. Wenn wir leugnen, dass es ein Problem gibt, müssen wir auch nichts dagegen machen. Das Leugnen drückt sich zum Beispiel darin aus, dass wir die gesamte Tierproduktion, die Schlachtfabriken und so weiter, so gut wie nie zu sehen bekommen. Dabei ist die moderne Fleischindustrie wohl eine der brutalsten Praktiken der Menschheitsgeschichte.
Außerdem wird Fleisch essen als „normal“ angesehen. Menschen, die kein Fleisch essen, werden als „Vegetarier“ bezeichnet und müssen sich rechtfertigen. Derjenige, der Fleisch isst, hat jedoch keinen Namen und muss sich auch nicht rechtfertigen. Vielen Menschen ist nicht einmal bewusst, dass sie eine freie Entscheidung treffen, wenn sie Fleisch essen.
Leute, die sagen, Fleisch essen sei natürlich, betrachten die Evolution des Menschen sehr einseitig und verschweigen, dass sich unsere nahen Verwandten aus dem Tierreich zum Beispiel hauptsächlich vegetarisch ernähren. Zudem gibt es auch andere menschliche Praktiken, die mindestens genauso „alt“ und dementsprechend „natürlich“ sind wie der Fleischkonsum: Kindsmord, Mord, Vergewaltigung und Kannibalismus. Da bemühen wir auch nicht die Geschichte, um dies zu rechtfertigen.
Viele halten es schlicht für notwendig, Fleisch zu essen. Es gibt da diesen Protein-Mythos, also das Argument, dass der Mensch auf tierische Proteine angewiesen ist, vor allem zur Kraftentwicklung. Dabei ist der stärkste Mann Deutschlands zum Beispiel ein bekennender Veganer. Es gibt auch in der Forschung immer stärkere Hinweise darauf, dass eine fleischlose Diät gesundheitliche Vorteile hat. Aber auch wenn man das nicht zur Kenntnis nehmen will, so weiß man doch, dass es seit Jahrtausenden Vegetarier gibt, die nicht nur gesund, sondern auch sehr lange leben.
Dass die weltweite Fleischproduktion in großem Maße der Umwelt, und damit uns selbst und unseren Nachkommen schadet, ist sicherlich den meisten bekannt und ein eigenes Thema für sich. Fleischkonsum ist für 51% aller Treibhausgase verantwortlich und trägt damit mehr zum Klimawandel bei, als der weltweite Verkehr mit Autos, Eisenbahnen, Schiffen und Flugzeugen zusammen.
Der Widerspruch zwischen dem „Wissen was richtig und falsch ist“ und der oft nicht stattfindenden Umsetzung dieser Gedanken in Bezug auf unser Handeln, sollte vielleicht zum diesjährigen Welttierschutztag einmal Anlass geben, dieses Missverhältnis zu diskutieren und sein eigenes Gewissen zu prüfen.
Quellen: